Freitag, 20. November 2020

# 123 - "Telegramm für Angelique" - Julie Patou (1971)

So ganz hat das jetzt doch nicht geklappt, mit meiner täglichen Motivation. Aber ich gelobe Besserung. Mein großes Tönen fällt in die Kategorie "zu früh gefreut". Auch bei uns im Opernhaus ist jetzt mitten im Probenprozess der Vorhang gefallen. Auch für uns gilt jetzt die Lockdown-Phase. Diese ungeplante Pause hat aber auch Vorteile ... ich konnte z. B. mein Schlafdefizit der letzten Wochen ausgleichen und mir Gedanken über Rezepte mit Käferbohnen machen. Für alle treuen LeserInnen dieses Blogs: Den inneren Drang mein Siphon (wieder) auseinanderzunehmen und zu reinigen, habe ich bis dato noch nicht verspürt. Aber das kann ja in den Weihnachtsputz-Vorbereitungen noch kommen ... 😜


JULIE PATOU

A: Telegramm für Angelique [Envoi-moi des Télégrammes] (M: Jean Fredenucci / dt. T: Günter Loose)
B: Oui, Monsieur
 [Balade a Velo] (M: Jean Fredenucci / dt. T: Günter Loose)

1971, Hansa, 10 813 AT


Jean Fredenucci ist ein französischer Komponist und Produzent sowie ehemaliges Mitglied der "5 Gentlemen", der auch Anfang der 70er-Jahre als Solosänger in Erscheinung trat.
1970 komponierte er beispielsweise "Nue au Soleil" für Brigitte Bardot. Das ist der (für mich) prominenteste Name in seiner Vita. Ich bin im französischen Musikbusiness leider zu wenig bewandert.

Nun aber zur Interpretin und ursprünglichen Textautorin. Die Plattenfirma schrieb folgendes zur Veröffentlichung ihrer einzigen deutschsprachigen Schallplatte:

Und wieder ein neuer Frankreich-Import bei Hansa: Nach Severine will sich als nächste die 23jährige Julie Patou dem deutschen Publikum vorstellen.
Julie Patou wurde 1948 in Paris geboren. Sie besuchte nach Abschluss der Schule eine Kunstakademie und im Mai [Anmk. 1971] siedelte sie um nach Paris, um sich dort für einen Wettbewerb der Graveure vorzubereiten. Sie reichte allerdings nie etwas ein. Stattdessen schrieb Julie Novellen ...
Zwischendurch betätigte sie sich als Schaufenstergestalterin, Bühnenbildnerin, Mannequin ... zwischendurch schrieb sie wieder Novellen ...
Dann begann sie eigene Chansons zu schreiben, und sie sang sie so lange allen möglichen Leuten vor, bis man endlich entdeckte, dass es niemanden gibt, der besser singen kann als sie.
Deshalb singt sie jetzt ihre Lieder und schreibt Novellen ...

Zwischen 1970 und 1972 veröffentlicht Julie Patou-Senez drei Schallplatten in Frankreich. Einzig die zweite ("Envoi-moi des Télégrammes") erscheint auch in einer deutschen und einer spanischen Version. Nach "L'appareil mecanique" wird es still um sie. 1978 erscheint das Buch "Coca-Cola-Story", danach verschwindet sie aus der Öffentlichkeit.
Mitte der 00er-Jahre trat sie - inzwischen unter dem Namen Julie Gence - im französischen Fernsehen wieder in Erscheinung. Leider findet man heute auch keinerlei Informationen mehr über diese Aktivität von ihr. Vor rund zehn Jahren hatte ich sehr kurzen E-Mail-Kontakt mit ihr. Unüberbrückbare Sprachbarrieren waren die Ursache dafür: geringe Englischkenntnisse ihrerseits und gänzlich nicht vorhandene Französischkenntnisse meinerseits.

Nun aber zu diesem "besonderen" Lied:

Telegramm für Angelique
Für die kleine Angelique
Heut' wird sie den Pierre wiedersehen
Und ihr Kummer, der wird vergehen

Telegramm für Angelique
Nur noch ein paar Augenblicke
Und dann wird ein Traum Wahrheit werden
Der schenkt ihr den Himmel auf Erden

Oh weinte sie, denn es kam kein Brief
Und sie saß ganz allein zu Haus
Aber seit heut', da sieht die Welt
Auch für sie viel schöner aus

Denn endlich kam ein
Refrain

Sie macht sich schön, nur für ihn allein
Denn sie freut sich auf ihn so sehr
Die Einsamkeit ist nun vorbei
Die gibt es für sie nicht mehr

Denn endlich kam ein
Refrain



Nun, wie bereits erwähnt, ist mein Französisch ziemlich bescheiden. Dank Google-Translate erhalte ich aber zumindest eine grobe Ahnung, was uns Julie im französischen Original, dessen Text sie selbst verbrochen verfasst hat, uns mitteilen wollte: Während im Original noch mehrere Telegramme angefordert wurden, u. a. aus Berlin, Basel, Rom oder Louisiana und sie gerne wissen möchte, ob in Nizza gerade die Sonne scheint, muss sie sich - frisch in Deutschland angekommen - mit einem einzigen Telegramm begnügen. Und das ist dann auch gar nicht für sie! Sondern für Angelique!
Zudem ist der Text um ein vielfaches umfangreicher und klingt eher danach, als würde die Beziehung möglicherweise nicht auf Gegenseitigkeit beruhen ... kleine Stalking-Tendenzen lassen sich erkennen, wenn sie z. B. davon spricht, dass seine Nachrichten all ihre Wände zieren.
In diesem Fall wäre seinerseits viel früher ein "Stop", wie in Telegrammen üblich, in der Realität notwendig gewesen. (Für alle jugendlichen LeserInnen: Mit Telegramm ist in diesem Fall nicht der gleichnamige Nachrichtendienst gemeint. Das klassische Telegramm ist eine Art analoge SMS - damals toll, heute richtig skurril).

Die Überraschung muss auch seitens der Plattenfirma groß gewesen sein, als die Redaktion der legendären ZDF-Hitparade tatsächlich Julie als Neuvorstellung im Januar 1972 auftreten ließ, wo sie live (!) "Telegramm für Angelique" vorstellen durfte. Das ein "bis-schön frahnsöhsisches Achsendt" durchaus süß sein kann, bewies bereits France Gall eindrucksvoll. Bei Julie ließen allerdings Textdeutlichkeit und Gesangskünste doch etwas zu wünschen übrig. Vielleicht wäre es klüger gewesen, wenn sie bei Novellen geblieben wäre?

In diesem Fall ist die Passage aus dem Plattenfirma-Text eher wie eine Drohung zu verstehen: "Dann begann sie eigene Chansons zu schreiben, und sie sang sie so lange allen möglichen Leuten vor, bis man endlich entdeckte, dass es niemanden gibt, der besser singen kann als sie." - Erinnert mich ein wenig an den "Böse-Königin"-Effekt aus Schneewittchen.
Wenn ich mir deutsche Aufnahmen französischer SängerInnen aussuchen darf, dann ziehe ich auf jeden Fall Mike Brant und Francoise Hardy vor - und dann kommt erstmal lange nichts.

Auf den deutschen Text, der an Plattheit und oberflächlicher Einfallslosigkeit kaum zu überbieten ist - eine schwache Stunde von Günter Loose, der zumindest mit Titeln wie "Marmor, Stein und Eisen bricht" oder "Wunder gibt es immer wieder", große Erfolge verbuchen konnte. Der Reim "Augenblicke - Angelique" ist einer meiner persönlichen Tiefpunkte im deutschen Schlagergeschäft (und als Germanist bin ich nur knapp einem Nervenzusammenbruch entkommen).

Ach ja, auf die Performance sollte ich auch noch eingehen. Nun ja: "Sie hat sich stets bemüht", könnte man irgendwo vermerken. Leider fehlt es dann doch an Bühnenpräsenz und Show-Talent, um den schwachen Song (der auch nicht wirklich zum Mitklatschen einlädt, auch wenn sie es immer wieder versucht anzuregen) aufzuwerten. Da nützt auch das Outfit, das - warum auch immer - "Born in the USA" vermitteln soll, wenig. Es reicht nicht aus, um Julie einen Platz im deutschen Schlagergeschäft zu ermöglichen.

Habt ihr schon einmal ein Telegramm abgeschickt? Ich nicht ... geht das überhaupt noch? In Lockdown-Zeiten könnten solche altmodischen Kommunikationstechniken durchaus wieder an Popularität gewinnen. Schreibt doch einfach eine Nachricht an eine Person, von der ihr schon lange nichts mehr gehört habt. Ich bastle derweil aus leeren Bierdosen ein "Dosen-Telefon" ... ich muss mich nur noch entscheiden, wohin ich die Leitung verlege ;)

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