Donnerstag, 2. April 2020

# 15 - "Hey Baby, kannst du's nicht lassen?" - Tanja Berg (1975)

Heute widmen wir uns einer der meist unterschätzten deutschen Sängerin. Ihr Plattenproduzent erkannte das Potential, das diese Frau hatte meiner Meinung nach nicht genug. Es entstanden großteils Aufnahmen, die in erster Linie kommerziell konzipiert waren, inhaltlich aber als eher nichtssagend gelten und - trotz ihrer markanten Stimme - im Schlagereinerlei der frühen 70er-Jahre großteils untergingen.




TANJA BERG
A: Hey Baby, kannst du's nicht lassen? [Walk on the wild Side - Lou Reed] (M: Lou Reed / dt. T: Tanja Kannenberg)
B: Wir zwei (M: Hugg / dt. T: Tanja Berg)

1975, Decca 6.11632
produziert von Tony Aktins


Tanja Berg (* 1941 als Ute Kannenberg) ist eine von Deutschlands erfolgreichsten Jazz-Sängerinnen. 1964 erhält die Sängerin mit dem tiefen Timbre ihren ersten Plattenvertrag. Bis es dann zu ersten Hits kommt, dauert es allerdings noch einige Jahre.
Ex-Fußballer und Hit-Lieferant Jack White (alias Horst Nussbaum) produziert Tanja Berg von 1969 bis 1973, ehe Berg - die gern verstärkt anspruchsvollere Titel machen möchte - der U-Musik den Rücken zuwendet. White, der ihr zusagte, sie wieder verstärkt Jazz singen zu lassen, hielt sein Versprechen nicht. Die wenigen Eigenkompositionen, die sie veröffentlichen durfte, reichten ihr nicht (mehr). Sie wechselte nun zu der Rockband os mundi, ehe sie für längere Zeit nach Nepal und Thailand ging.
Zurück in Deutschland versuchte sie, inzwischen mit neuem Look und kurzen Haaren, verstärkt deutsche Popmusik zu machen. Zwei Singles mit Coverversionen großer Hits kamen auf den Markt, ehe Tanja das ganze Schlager-Business hinter sich ließ.
Auf dem zweiten Bildungsweg studierte sie Sozialpädagogik und engagierte sich für viele Menschen am Rande der Gesellschaft. Es folgten zahlreiche weitere Auftritte, Tätigkeiten für Radio und Fernsehen, Theaterstücke sowie Unterrichtsaufträge als Gesangsdozentin.

Tanja Berg hätte definitiv (mehr) andere Titel verdient. Listet man jetzt einige der Songs auf, die Jack White mit ihr produziert hat, wirkt das recht banal, da Tanja weder das Image des kleinen süßen Mädchens noch der treu ergebenen, leicht unterwürfigen, guten Freundin hatte: "Komm wieder, wenn du frei bist", "Eine Herde wilder Pferde" (1971), "Ich hab' dir nie den Himmel versprochen" (1971), "Die nächste Liebe kommt bestimmt" (1972), "Das Herz, das du brichst" (1973) oder "Vergessen ist leichter gesagt als getan" (1973).

Nun aber zu diesem interessanten Cover. Lou Reed's "Walk on the wild side", das Anfang 1973 bis auf Platz 16 der Billboard-Singlecharts kletterte, machte ihn fast über Nacht zu einem One-Hit-Wonder.
Der Song basiert auf dem Roman "A Walk on the Wild Side" von Nelson Algren aus dem Jahr 1956. Ursprünglich sollte daraus ein Musical entstehen, doch Reed lehnte ab. Die Figuren sprachen ihn nicht an. Trotz alledem schrieb er einen Song darüber, ersetzte die Figuren aber durch reale Personen, die er aus Andy Warhols Factory kannte - New Yorker Transvestiten und Homosexuelle der 60er- und frühen 70er-Jahre. Es ist faszinierend, dass dieser Song auch im prüden Amerika ein Hit wurde (okay ... anscheinend wurde die zweite Strophe mit der Oral-Sex-Stelle adaptiert).

Hermann hat das Leben auf dem Lande satt
Wollte mehr, wie das, was er bis jetzt gesehen hat
Zupft die Augenbrauen auf dem Weg
Rasiert die Beine und aus er wird sie

Hey Baby, kannst du's nicht lassen?
Hey Baby, kannst du's nicht lassen?

Jackie war ganz schön weit weg
Dachte er wär' James Dean für 'nen Tag
Doch dann verlor er den Überblick
Valium holte ihn schnell zurück
Hey Baby, kannst du's nicht lassen?Hey Baby, kannst du's nicht lassen?

Rosalia glaubte an Gott un den Heiland
In der Dollbar war sie jedermanns Darling
Aber nie verlor sie ihren Kampf
Auch wenn sie viele Haare lassen muss


Hey Baby, kannst du's nicht lassen?
Hey Baby, kannst du's nicht lassen?

Little Joe dealte nur im großen Stil
Jeder zahlte und nie gabs bei ihm zu viel
Mal Trouble hier, mal Trouble dort
Kein Ort, wo du was geschenkt bekommst
Hey Baby, kannst du's nicht lassen?

Hey Baby, kannst du's nicht lassen?

Marie-Luise kam frisch aus der Provinz
Stand auf große Welt ganz immens
Wollt' zum Film wie die Monroe
Jetzt zeigt sie Po in einem Porno


Hey Baby, kannst du's nicht lassen?
Hey Baby, kannst du's nicht lassen?

Tanjas Textadaption ist beeindruckend, da sie sich stellenweise sehr stark am Originaltext orientiert (Strophe 1, 2 und 4), auch wenn die Reihenfolge zum Original abweicht, während Strophe 3 bereits freier ist und die Protanistin statt Blowjobs im Backroom zu vergeben, eine Krebserkrankung hat, was dem ganzen definitiv mehr Tiefe gibt. Da orientiert sich die letzte Strophe eher an der zweiten Strophe des Originals.
Durch die Benutzung von deutschen Namen (Hermann, Marie-Luise) erhält der Song eine andere Realität. Es fühlt sich glaubwürdiger an und man hat das Gefühl, als würde es diese Personen in Tanjas Leben wirklich geben.
Beeindruckend wie diese fünf Schicksale in jeweils vier Verszeilen, trotz des simplen Arrangements des Originals und dem eher als Sprechgesang wertenden Einsatz Tanjas, plastisch erscheinen.

Für mich definitiv eine gelungene Coverversion, die heute natürlich ein wenig banal, verkünstelt und brav daher kommt, vor 45 Jahren aber definitiv die Menschen mehr polarisiert hat als heute. Da konnte man über einen Transvestiten bzw. "Menschen aus dem Milieu" noch nicht so frei singen. Lilli Marleen spielt ja beispielsweise auch nur eine sehr verkitschte und romantisierte Form der Prostitution wider ...

Für Tanjas Einsatz - danke, dass du es nicht lassen konntest - vergebe ich fünf von fünf High-Fives.



Und hier das Original





"The wild Side" ist für jeden etwas Anderes ... aktuell fühlen wir uns bereits auf der falschen Seite, wenn wir ohne Handschuhe ein Einkaufswagerl berühren. Hoffen wir, dass bald wieder einige Dinge an Normalität gewinnen ...

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