Samstag, 4. April 2020

# 17 - "Japan ist weit" - Sandra (1984)

Heute gibt es wieder Fernweh für euch - passend zum sonnigen Wochenende. Darüber hinaus noch gratis eine deutsche Coverversion, die so gar nichts mit dem Original zu tun hat ;)




SANDRA
A: Japan ist weit [Big in Japan - Alphaville] (M: Marian Gold, Bernhard Lloyd & Frank Mertens / dt. T: Michael Kunze)
B: Sekunden (M: Michael Cretu / T: Michael Kunze)

1984, Piccobello 106 430
produziert von Michael Cretu



Sandra Ann Lauer, 1962 in Saarbrücken geboren, veröffentlichte als 14-Jährige ihre erste Single ("Andy, mein Freund"), die leider ziemlich floppte. 1978 wurde sie Mitglied des Frauen-Trios "Arabesque", mit dem sie als Leadsängerin bald große Erfolge feiern konnte.
1984 wagte sie einen Neuanfang als Solosängerin und Michael Cretu, der bald auch ihr Ehemann wurde (die Scheidung folgte 2008), produzierte diese Single mit ihr.
Während Alphaville (übrigens eine deutsche Band) mit "Big in Japan" einen Megahit in vielen Ländern landen konnten (der Song war 1984 der erfolgreichste in ganz Deutschland!) und die Platte millionenfach verkauften, ging Sandras deutsche Coverversion angeblich nur 125-mal über den Ladentisch. Der größte Flop ihrer Karriere.
Ein Jahr später gelang ihr mit "(I'll never be) Maria Magdalena" ein erster Hit. Mit ihren englischen Songs verkaufte sie rund 30 Millionen Platten und zählt damit nach wie vor zu den erfolgreichsten deutschen Sängerinnen.

Doch woran lag es, dass die Platte förmlich "schwer wie Blei" in den Regalen liegen blieb? Zugegeben, in den 80er-Jahren war der New-Wave-Sound von Alphaville revolutionär und fesselte viele Menschen. Deutscher Schlager war out und deutscher Pop nur in der schrägen Form der Neuen Deutschen Welle beliebt.

Da nützt es auch nichts, wenn Sandra ihre tragische Liebesgeschichte ins Mikro säuselt. Und es dabei immer ein wenig so klingt, als wäre die Frequenz ein bisschen zu hoch eingestellt ..

Wolken, schwer wie Blei
Über Häuserschluchten, Straßen 
ohne Ziel durch's Labyrinth
Wo soll ich hingehen?
Wo bin ich zuhaus?
Die Zeit der Illusionen ist vorbei

--> die erste Strophe ist vielleicht ein bisschen zu intellektuell gestaltet? Dieses höchst philosophische Thema über "Sein" und "Nicht-Sein" und die Frage nach der menschlichen Existenz sind nicht eingängig genug, um es auch in der Disco mitzusingen.

Ich mach' meine Augen zu
Was mir fehlt bist du, nur du
Doch du lebst in einer ander'n Welt
Ich wart' in der Dunkelheit
Jeder Herzschlag ist ein SOS
Ich ruf' dich, aber Japan ist weit

--> Liest man sich nur den Text durch, könnte es sich dabei wirklich um ein seichtes Schlager-Schnulzelchen a la Bonny St. Claire handeln. Da würde wirklich niemand auf die Idee kommen, dass es sich dabei um den Nummer-1-Pop-Song von Alphaville in deutscher Sprache handelt. (Zugegeben, inhaltlich haben sie ja wirklich nichts gemein)

Oh, Japan ist weit, so weit
Am ander'n Ende der Zeit
Und was uns trennt
Ist mehr als nur ein Meer

--> Ja, zwischen Saarbrücken und Japan sind definitiv ein paar Meere ... aber das mit dem "ander'n Ende der Zeit" stimmt allein schon in Bezug auf die Zeitzone nicht wirklich.

Japan ist weit, so weit
Doch ich will dich hier und heut'
Oh, ich brauch dich, aber Japan ist weit
Oh, Japan ist weit

Neonlicht auf nackter Haut
Silhouetten fremder Menschen
die an mir vorübergeh'n
Soll ich rausschrei'n, was ich fühl?
Schick ich meine Träume ins Exil 
um sie nie mehr zu seh'n?

--> in der zweiten Strophe hat man tatsächlich versucht, Teile des Originaltextes wortwörtlich zu übersetzen ("Neon on my naked skin passing silhouettes of strange illuminated mannequins"). Was im Original passt, wirkt hier stark künstlich und irritierend.




Gut. Jetzt kommen wir einfach zum Hauptargument, warum es vermutlich kein Hit wurde:

Marian Gold, der Leadsänger von Alphaville, der den Großteil des Textes schrieb, gibt ein wenig Aufklärung (die Idee zu den Zeilen kamen ihm übrigens auf dem Weg zum Zahnarzt). Da Lied handelt im Original von zwei befreundeten Junkies, die sich in der Drogenszene rund um Berlins Bahnhof Zoo bewegen. Es erzählt von ihren Fantasien, ein drogenfreies Leben zu führen. Und "Big in Japan" symbolisiert die Idee von einem erfolgreichen Neuanfang in einer anderen Welt.
"Es beschreibt, dass wenn du ein kompletter Versager bist, du anderen Leuten erzählst: 'Ich bin kein Versager, denn in Japan bin ich richtig erfolgreich'. Es ist die Lüge von Versagern und passt - auf tragische Weise - perfekt in die Geschichte dieser beiden Junkies." (Marian Gold, Interview von 2019, eigene Übersetzung)




So stülpte die deutschsprachige Coverversion eine schöne, wenn auch seichte Liebesgeschichte darüber und verklärte so den ganzen Song, was ihn zu - nicht mehr aber auch nicht weniger - einem beliebigen Lied über eine (zumindest einseitig) unbefriedigende geführte Fernbeziehung macht.
Die ernste Thematik des Originals führte meiner Meinung nach schon ein wenig zu dem Erfolg - auch wenn sich viele Menschen vermutlich noch nie Gedanken darüber gemacht haben, dass dieser Song deutschen Junkie-Alltag beschreibt.

Für diese Coverversion vergebe ich fünf von fünf japanische Essstäbchen.

Ob man nun "big in Japan" sein möchte oder sicher lieber nach einer Fernbeziehung mit einer Japanerin sehnt, bleibt einem selbst überlassen. Ich hege aktuell eher romantische Gefühle an eine große Portion Sushi, nach der ich tatsächlich schon länger Sehnsucht habe (schade, dass es keine Schlager über Sushi gibt!)

Genießt das Wochenende und bis morgen ;)

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