Sonntag, 26. April 2020

# 39 - "Paul" - Milestones (1971)

Heute widmen wir uns wieder einmal der österreichischen Popmusik. Wichtige Vertreter der frühen Austropop-Gattung waren die Milestones. Meilensteine auf dem Weg der österreichischen Musik. Und der Sound dieser Gruppe aus Wien war durchaus prägend und absolut spannend für diese Zeit.
Nachdem ich gestern sehr feministisch unterwegs war, gibt es heute die Geschichte von einem Mann namens Paul - der übrigens im Wald lebte.




MILESTONES
A: Paul (M & T: Günter Grosslercher)
B: Der staatenlose Koffer (M & T: Günter Grosslercher)

1971, Bellaphon, BL 1179

Die Milestones formierten sich 1968. 
Gründungsmitglieder waren:

Günther Grosslercher (* 1945) - Gesang, Gitarre
Beatrix Neundlinger (* 1947) - Gesang, Flöte
Rudi Tinsobin - Gesang, Bass, Flöte, Posaune
Robert Unterweger - Gesang, Banjo, Gitarre

In dieser Besetzung nahmen sie an einem großen von Ö3 und ORF österreichweit initiierten Talentwettbewerb ("Show-Chance") teil, der im März 1969 mit einer großen Live-Finalausscheidung mit der ORF-Bigband im Fernsehen übertragen wurde. Der junge Ö3-Discjockey André Heller führte durch den Abend und auf dem Siegertreppchen standen die Milestones mit der dadaistischen Eigenkomposition "Einmal (wird der Stein der Weisen weich)". Die ursprüngliche Absicht dieses Wettbewerbs war es einen geeigneten Vertreter für Österreich beim Grand Prix d'Eurovision zu finden (Österreich nahm allerdings erst 1972 wieder am ESC teil!).
Die fünf Bestplatzierten traten bei der "Internationalen Show-Chance", in Kooperation mit Deutschland und der Schweiz, in der Rheingoldhalle in Mainz auf - Sieger dieses Bewerbs: Ebenfalls die "Milestones".

Ihr Siegertitel wurde auf Schallplatte veröffentlicht und 1970 folgte die erste LP, deren Titel großteils Grosslercher beisteuerte. 1972 stießen Christian Kolonovits (* 1952) und Norbert Niedermayer zu der Gruppe.
In dieser Formation wurden sie 1972 als Vertreter Österreichs zum Eurovision Song Contest nach Edinburgh geschickt. Ihr romantischer Titel "Falter im Wind" belegt Platz 5. Am Siegertreppchen landete übrigens Vicky Leandros mit "Aprés toi" für Luxemburg. 

Bis zur Auflösung 1975 gab es noch weitere Umbesetzungen.
Neundlinger und Grosslercher schlossen sich den "Schmetterlingen" an, Niedermayer wechselte zur Band "Springtime" und Christian Kolonovits verlegte sich auf das Komponieren und Arrangieren.

Weitere Titel der Gruppe waren "20 Uhr 02" (1970), "Alle Tage" (1973), "Apfelbaum" (1973), "Ballade von Hartmut Winzer" (1970), "Bürgers Traum" (1970), "Chor der Alten" (1970), "Hamlet" (1973), "In den neuen besseren Zeiten" (1970) und "Schade" (1974).

Nun aber zur Geschichte von Paul:

Er lebte im Wald
Und träumte von Waffen
Man fasste ihn bald
Man wollt' ihn bestrafen
Sein Verhängnis: Abnormität

Paul hieß er wohl, Paul
Und faul war er auch
Er hielt sich den Bauch vor Lachen
Als eine Taube dem Bürgermeister
Schwarz-weiß-grauen Kleister
Auf den Hutrand schmiss

Refrain
Zwei Jahre Gefängnis

Paul hieß er ja, Paul
Auch war er wohl faul
Gerne sprach er zu Mädchen
Die ihre Freunde verließen
Lieber lief er über leere Wiesen
Als so ein Mädchen anzurühren
Paul - er ließ sich nie verführen

Refrain
Zwei Jahre Gefängnis

Paul hieß 22 Jahre Paul
Steinmetzgehilfe wohl
Einer der auf Blechbüchsen schoss
Der im Steinbruch Füchse zähmte
Und meistens eine unverschämte Lust verspürte
Sich vor der Welt zu verstecken

Refrain
Abnormität
Für was anderes war es zu spät


Tja. Das ist also die Geschichte vom 22jährigen Paul, der im Wald lebt und gelegentlich von Waffen träumt. Die attestierte Abnormität bleibt fraglich, die Haftstrafe deutet aber auf ein Vergehen hin. Eine überführte Tat oder war es einfach sein Verhängnis, das er sich als Einsiedler in die Natur zurückzog?
Spannend, dass man für einen Song so einen Sonderling in den Mittelpunkt stellt. Paul hat mehr die Züge einer sympathischeren Version von Brechts Parade-Antiheld Baal.
Möglicherweise gab es einen Vorfall? Ein Übergriff, eine Vergewaltigung? Zumindest könnte es damit zu tun haben, sonst wäre die dritte Strophe obligat.

Gerne sprach er zu Mädchen
Die ihre Freunde verließen
Lieber lief er über leere Wiesen
Als so ein Mädchen anzurühren
Paul - er ließ sich nie verführen

Dennoch bleibt das Schicksal des Steinmetzgehilfen in vielerlei Hinsicht rätselhaft. Was wurde aus ihm? "Für was anderes war es zu spät" - das Ende bleibt offen.
Das dieser Song kein riesengroßer Hit wurde, verwundert auch weniger. Dennoch haben die Milestones für mich einen unvergleichlichen "Sound". Die klaren, markanten Stimmen harmonieren wahnsinnig gut miteinander und die Arrangements setzen stets das Lied bzw. den Text in den Vordergrund. Sie erinnern mich immer ein wenig an Peter, Paul & Mary. Aber sie kopieren nicht, sie sind komplett eigenständig. Ihr Werk ist absolut einmalig. Ihre Lieder sind meist leise. Es gibt keine großen Ausbrüche, keine überraschenden Harmoniewechsel oder Effekte. Dennoch sind sie nie beiläufig und regen an. Zum Zuhören. Zum Nachdenken. Aber weniger zum Tanzen oder Mitsingen.




Für diesen Song lege ich fünf Meilensteine auf den Weg, in der Hoffnung, dass Paul doch noch zurückfindet.

Was Paul wohl heute macht, falls es ihn jemals wirklich gab? Ich glaube, dass man mit ihm durchaus Spaß haben hätte können. Vor allem diese "unverschämte Lust, sich vor der Welt zu verstecken" kann ich ihm sehr gut nachempfinden. Gerade an Tagen wie diesen.

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